Eine Reise durch Gagausien

Hallo alle zusammen und schöne Grüße aus dem Herzen Berlins! Im letzten Monat habe ich ein Praktikum im Office der JEV in Berlin gemacht, worüber ich mich riesig gefreut habe. Das war eine außergewöhnliche Möglichkeit nicht nur die Menschen, die sich mit den Problemen und Fragen, die mich bewegen und beschäftigen, kennenzulernen, sondern auch einen Überblick über die kulturelle Vielfalt Europas zu bekommen. Ich bin froh einen Einblick erhalten zu haben, wie man verschiedene Menschen vereint, neue Ideen entwickelt und gemeinsam Ziele erreicht. Diese Stelle habe ich durch die Organisation Dekabristen e.V. bekommen, wofür ich sehr dankbar bin.

Ein paar Worte über mich: Mein Name ist Tamara Arnaut, 29, ich komme aus der Republik Moldau und beschäftige mich zu Hause meistens mit dem Unterrichten der deutschen Sprache. Obwohl ich aus Moldau komme, gehöre ich zwar zu den Moldauern, aber der Nationalität nach bin ich Gagauserin. Was das wohl für eine Nationalität ist?! Um diese Frage zu beantworten, begeben wir uns gemeinsam auf eine virtuelle Reise durch Gagusien.

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Einst schrieb ein Dichter über uns: „Die Gagausen sind ein kleines, geheimnisvolles Volk.“ Meiner Ansicht nach hatte er völlig recht. Wir sprechen zwar eine Turksprache, sind aber nicht wie andere Turkvölker Muslime sondern Christen. Laut Historikern sind wir weder Türken, noch Bulgaren, noch Griechen, sondern einfach Gagausen (man spricht: Gaga-usen). Unseren Ahnen, einem antiken Turkvolk, ist es zu verdanken, dass unsere wunderbare Sprache, reiche Kultur und einzigartige Tradition über Jahrhunderte erhalten blieben.

Und jetzt möchte ich euch in mein Gagausien (man spricht: Gaga-usien) einladen. Im Süden der Republik Moldau liegt die autonome Region Gagausien. Die Gagausen haben ihre eigene Regierung und Verwaltung, eine eigene Universität und mit Gagausisch ihre eigene Sprache. Der höchste politische Vertreter heißt „Baschkan“ und hat seinen Sitz in der Hauptstadt Komrat. Nach dem Ende des Kommunismus haben sich die inzwischen autonomen Gagausen friedlich mit der Regierung des moldawischen Mutterlandes arrangiert. Touristen lockt Gagausien mit Sonne, Wein und Gastfreundschaft.

In 26 Gemeinden, darunter vier Städten, leben insgesamt 155.000 Menschen. Mit 86 Prozent der Bevölkerung stellen die Gagausen die größte ethnische Gruppe. Bei uns leben aber auch Moldauer, Bulgaren, Russen, Ukrainer, Weißrussen und Polen. Bis zum heutigen Tag ist das Zusammenleben aller Völker hier von Toleranz und Harmonie geprägt. In all den Jahren gab es keine interethnischen Konflikte.

„Wir sind die Nachfahren von Wölfen“, erklärte meine Großmutter, als sie mir als kleinem Kind das gagausische Wappen mit dem Raubtier zeigte. Laut der Legende hatte ein Wolf, nach dem verheerenden Überfall der Feinde, im Wald einen wie durch ein Wunder überlebenden kleinen Jungen gefunden und pflegte ihn. Dieser Junge wurde der Vorfahre der Türken. Geschichtlich waren wir viele Male von anderen Völkern versklavt, doch jedes Mal haben wir unsere Freiheit wiedergefunden. Die Worte meiner Großmutter werde ich immer im Herzen tragen und mich mit meinem Volk und meiner Kultur identifizieren.

GAGAUSISCHE KULTUR

Unser nächster Halt in Gagausien ist „die Kulturhaltestelle“. Wir waren immer stolz auf unsere Sitten und Bräuche. Sie werden behalten und sorgfältig gepflegt. Jedes Jahr werden die zahlreiche Nationalfeiertage prachtvoll gefeiert. Einer davon ist das Weinfest „Gagauz şarap yortusu“. Auch in diesem Jahr haben an dem Fest mehr als 40 Gemeinden und kleine Winzereien teilgenommen. Das Fest wurde mit der improvisierten Szene von der Weinherstellung begonnen. Das kleine Theaterstück wurde von den Schauspielern des gagausischen Nationaltheaters sowie den Ensembles „Dius Awa“ und „Evelki Dius Awa“ aufgeführt. Danach haben die Gäste und die Teilnehmerinnen zusammen einen „Freundschaftshorra“, unseren Volkstanz, getanzt. Unter diesem Link findet ihr mehr Information zum Fest sowie Fotos und Videos (auf Russisch):

http://locals.md/20…/den-vina-v-gagauzii-v-instargam-kadrah/

Die Kultur sowie die Eigenschaften des Volkes spiegeln sich in erster Linie in der Volksmusik, Volksliedern und Volkstänzen wider. In diesem Lied wird z.B. die Schönheit der gagausischen Menschen besungen:

https://www.youtube.com/watch?v=TByXidiB8t0

In dem folgenden Video ist ein typischer gagausischer Tanz zu sehen:

https://www.youtube.com/watch?v=Zg4-UVLCSHA

Die gagusischen Lieder sowie Tänze sind meistens temperamentvoll und besitzen viel Charisma, ebenso wie die Menschen selbst in diesem kleinen und sonnigen Ort der Welt sind.

POLITISCHER UND GESCHICHTLICHER HINTERGRUND

Nun nehme ich euch mit in den Sitzungssaal der Universität. Dabei lenke ich eure Aufmerksamkeit auf die Wandteppiche, die mit den Abbildern von Atatürk und Stefan dem Großen, dem rumänisch-moldauischen Fürsten, die Wände schmücken. Das zeigt, dass das Territorium sich geschichtlich bis 1990 abwechselnd unter verschiedenen Herrschaften, z.B. osmanischer, russischer oder rumänischer Herrschaften befand. Wie ihr schon seht, möchte ich euch als weiteres die politische Situation in Gagausien erläutern.

Gagausien erklärte sich am 19. August 1991 unabhängig, gefolgt von Transnistrien im September. Einige glauben, dass diese Bewegungen die nationalistische moldauische Volksfront (die kommunistische Partei) dazu veranlassten, die pro-rumänische Linie zu verlassen und sich für die Rechte der Minderheitenregion einzusetzen.

Die Unabhängigkeit dauerte aber nicht lange. Im Februar 1994 wandte sich der moldauische Präsident Mircea Snegur gegen die Unabhängigkeit von Gagausien und erklärte sie zu einer autonomen Region Moldawiens, die auch Verfassung verankert wurde. Die Verfassung räumt uns unter anderem das Recht auf eine eigene Verwaltung und ein eigenständiges Bildungssystem, sowie die Anerkennung unserer Sprache als Amtssprache ein. Sollte Moldawien den Status eines unabhängigen Staates verlieren, wird Gagausien nach der Verfassung ein unabhängiger Staat.

Die Legislative Gagausiens ist das Parlament, „Halk topluşu“ (Volksversammlung) genannt. Seit 1998 existiert eine demokratische Verfassung. Regiert wird Gagausien von einem für vier Jahre direkt gewählten Premierminister. Dieser Posten trägt den gagausischen Namen „Başkan“. Bei den letzten Wahlen im März 2015 siegte Irina Vlah, sie ist die erste Frau in dieser Position.

Unser Volk ist tatsächlich zu einer Nation im modernen Sinne geworden, mit einerseits allen Grundzügen der Staatlichkeit, Territorialität, kulturellen und psychologischen Eigenschaften und der unverwechselbaren Präsenz ihrer ethnischen und kulturellen Vielfalt. Andererseits haben wir durch die wechselvolle Geschichte viele Vorteile von verschiedenen Völkern und Kulturen erlangt, wie z.B. die Küche und die Kriegführung von den Osmanen, das Handwerk von den Russen oder die Bildung von den Rumänen, die uns einen einigen einzigartigen historischen Vorteil geben.

BILDUNG

Nun möchte ich euch noch einen Einblick in das Bildungssystem Gagausiens geben. Gagausien hat 55 Schulen, die Komrat Pädagogische Hochschule und die Universität Komrat, in denen auf gagausisch unterrichtet wird. Die staatliche Hochschule hat 18 Lehrstühle, 250 Dozenten und 2500 Studenten, die tüchtigsten sind in der Eingangshalle zu sehen, in Farbe abgelichtet. 300 Lei monatlich, ungefähr 36 Euro, beträgt das höchste Stipendium. Seit dem Jahr 525, als türkische Stämme sich vereinigten, bis in die Gegenwart lehrt die Universität anhand von archäologischen Fundstücken, von Kunst und Handwerk, Literatur und Fotografie die Kontinuität der gagausischen Geschichte.

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Die Türkei finanziert die Schaffung und den Erhalt eines türkischen Kulturcenters und einer türkischen Bibliothek, um die Verbundenheit der Türkei mit den türkischstämmigen Gagausen zu demonstrieren. Außerdem fördert die Türkei auch eine kleine autonome Region, mitsamt ihren beiden Enklaven, den Dörfern Copceac und Carbolia.

Um den Erhalt und die Präsentation der gagausischen Kultur zu fördern wurde im Dorf Beşalma ein gagausisches historisch-ethnographisches Museum von Dimitriy Kara Coban eröffnet.

Nun möchte ich mich von euch verabschieden, unsere Führung ist leider zu Ende. Ich hoffe, sie hat euch gut gefallen und dass ihr dabei eine Vorstellung von meiner Heimat bekommen habt. Wenn ihr den Wunsch habt, dieses kleine und wundervolle Land und Leute näher kennenzulernen, seid ihr herzlich eingeladen, wir sind das gastfreundlichste Volk auf der Welt!

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